Tourenbericht „Dent Blanche und Aiguille de la Tsa“

Dent de Tsalion Westgrat

von Oliver

Es gibt Leute, die ständig auf der Suche nach der idealen Lösung sind. Tüftler könnte man sie nennen. Manche sind es aus freiem Willen, andere, weil sie die unvollkommene Realität nicht hinnehmen können. Als ich vor vielen Jahren das erste Mal auf die Dent Blanche ging war ich begeistert von dieser wunderschönen Tour. Aber ich wollte nicht akzeptieren, dass es diese Tour nur mit elends-langem Hüttenzustieg, ohne eine logische Kombination mit einem anderen Gipfel geben sollte.

Einige Jahre später startete das Tüfteln. Ich wollte es nicht glauben, dass es da keine Tourenkombination gibt und wühlte mich durch Karten, Tourenberichte und Führerliteratur. Der Abstieg zur Schönbielhütte kam jedenfalls nicht mehr in Frage. Zu oft hatte ich schon davon gehört – aber nie etwas Gutes. Was wäre mit der anderen Seite? Da sah ich sie. Ein edler Kletterberg, einladend und ideal als Vorbereitungstour: Die Aiguille de la Tsa. Formschön, elegant und nur wenigen bekannt. Nur: auf der anderen Seite des Tales, dazwischen ein riesiger Gletscher mit vielen Fragezeichen.

Wenn man gerne tüftelt und ausgefallene Wege sucht, gibt es am Ende oft 2 Optionen, warum man auf einen Weg oder eine Route stößt, die offensichtlich kaum jemand geht: Entweder (1.) bin ich einer der wenigen, der sich überhaupt die Mühe antut und nach einem Alternativ-Anstieg sucht, oder (2.) bin ich einer der wenigen, der nicht weiß, dass dieser Weg unlohnend/mühsam/nicht mehr begehbar/gefährlich/nicht mehr existent ist. Noch interessanter wird es, wenn die ins Auge gefasste Linie eine dazu recht offensichtliche ist.

Das ist der Punkt, an dem sich die Spreu vom Weizen trennt. Während vernunftsgetriebene Menschen eher der Erfahrung anderer trauen, sich einmal die Normalroute anschauen und dann vielleicht sich vorsichtig herantasten, bedarf eines besonderen Charakterzuges, wenn man sich dafür entscheidet All-in zu gehen und sein Genie auf Wahnsinn zu überprüfen. Das ist auch der Punkt, wo der*die Leser*in selbst entscheiden darf, welchen Weg der Autor dieser Zeilen ging, um seine Tourenkreation „Aiguille de la Tsa und Dent Blanche – Walliser Berggenuss abseits der Massen“ in die Tat umzusetzen.

 

Es war ein heißer Nachmittag im Juli, als ich mich mit Jörg in Les Hauderes, einem schmucken kleinen Bergdorf im schweizerischen Wallis, traf. Nach langen Wochen des unsicheren Wetters lagen nun endlich ein paar Tage stabilen Hochdruck-Sommerwetters vor uns. Perfekt! Obwohl Luftlinie nur 20 km von Zermatt entfernt, ist man hier eindeutig NICHT in Zermatt. Kaum Touristen, nur Seilbahnen im Mini-Format und keine Parkgebühren. Und genau deshalb waren wir hier. Jörg ist wie ich ein Liebhaber besonderer Tourenkreationen abseits des Mainstreams. Davon durfte ich mich bei unserer gemeinsamen Tour auf das Schreckhorn vor einigen Jahren selbst überzeugen. Darum hatte ich auch Jörg auserkoren und überzeugt, diese neue Tourenkreation mit mir auszuprobieren. Also fuhren wir gemeinsam nach Arolla und stiegen zur Cabane Tsa auf. Schon bei der Autofahrt nach Arolla sticht einem der edle Felszahn ins Auge – ein Berg, bei dem sich der Ausruck „unbezwingbar“ irgendwie aufdrängt. Auch die Cabane Tsa bestätigte unseren Eindruck, dass der Hase hier anders läuft. Am sundowner-spot par excellence gelegen eignet sich die Hütte perfekt zum Ankommen, Abschalten und Staunen. Außer uns waren nur 4 weitere Personen auf der Hütte. Auf die Frage, ob denn viele Leute von hier auf die Aiguille de la Tsa gehen, bekam ich die beste aller Antworten: „fast niemand. Nur ein paar einheimische Bergführer, sonst kennt das hier niemand…“. Yesssss.

Zustieg zur Cabane Tsa mit Ausblick auf Aiguille de la Tsa und Dent de Tsalion

Am nächsten Morgen starteten wir im ersten Tageslicht. Nach etwa einer Stunde standen wir am Beginn des Westgrates des Dent de Tsalion. Dunkel und abweisend ragte die wilde Westflanke über uns. Über den vor uns aufragenden Westgrat konnte ich in der Führerliteratur nicht viel finden. In einem alten AV-Führer las ich vom „schönsten Felsgrat im Arollatal“ und einer logischen Linie. Mehr an Überzeugung bedurfte es nicht. Schon die ersten Meter am Grat überzeugten uns: fester, kletterfreundlicher Fels!

Im ersten Drittel hält man sich eher links vom Grat, klettert dort einige Aufschwünge, wobei dort schon der obere 3./untere 4. Grad gefordert wird – mit den steifen Bergschuhe gar nicht so einfach! Sobald man wieder auf die Gratkante kommt erreicht man cruising-Gelände. Und auf cruising mode schalteten wir dann auch – schließlich hatten wir noch einiges vor uns. So kletterten wir viel am laufenden Seil, denn die Wegfindung war hier einfach und die Kletterei meist irgendwo im 2. Und 3. Grad. Hoch über uns ragte die Aiguille de la Tsa in den Himmel – ihre Westwand abweisend und steil. Doch schön langsam kamen wir in Richtung ihrer Augenhöhe. Doch nicht zu früh gefreut: im oberen Drittel warten die Schlüssellängen. Der Grat wird hier immer schmäler und geschlossener, sodass man hier auf etwa 30m Länge eine plattige Gratkante im 4. Grad überwinden muss. Wer des 4. Grades nicht absolut mächtig ist wird sich hier über Kletterschuhe freuen. Hier stecken auch die einzigen Bohrhaken, die wir in der Tour fanden. Ansonsten war selber absichern angesagt – was aber mit einem Satz Friends und vielen Köpfelschlingen leicht ging. Ganz zum Schluss steilte sich der Grat noch einmal auf, bis wir spektakulär den Gipfel des Dent de Tsalion auf 3589m erreichten. Und von dort sahen wir sie endlich: die Dent Blanche! Mächtig stand der weiße Zahn am anderen Ende des Tales. Weit weg und ziemlich wild sah er aus! Beim Blick auf die Uhr erklärte sich schließlich auch das Brennen in unseren Oberschenkeln. In nur 3 Stunden hat mich Jörg über den fast 1000m langen Grat hinaufgetrieben. Das ist einmal richtig gut gelaufen und hat Lust auf mehr gemacht!

Dent de Tsalion Westgrat, kurz vor dem Gipfel. Im Hintergrund die Aiguille de la Tsa

Vom Dent de Tsalion stiegen wir ein kurzes Stück nach Süden ab und querten dort über Schnee und Gletscher-Reste (Achtung Spalten!) unter die Ostwand der Aiguille de la Tsa. Hier waren schon 2 Seilschaften am Werk, die wir ziemlich schnell eingeholt hatten. Die Kletterei hier war wahrlich das Sahnehäubchen dieses Tages! Der Fels war kompakt und gutgriffig, die Kletterei steil und die Sonne wärmte uns angenehm. So war es eine wahre Freude, als wir nur 1 Stunde nach Verlassen des Dent de Tsalion auf der Aiguille de la Tsa standen. Wahnsinnig ausgesetzt und mit einem super Panorama genossen wir die Momente auf dem schmalen Gipfel.

3 Abseiler später (ideal mit 50m-Seil) standen wir wieder am Glacier de l’Aiguille, über den wir in Richtung Cabane Bertol abstiegen. Etwas westlich des P. 3373 stiegen wir am Pointe de Bertol vorbei. Dahinter mussten wir über etwas unangenehme, teils seilversicherte steile Fels- und Geröllhänge absteigen, den nächsten Gletscher queren und schließlich über steile Leitern zur Cabane Bertol (3311m) aufsteigen.

Der Anfang war also geschafft und das Grinsen in Jörgs Gesicht ließ mich erahnen, dass die „Aufwärmrunde“ erfolgreich geglückt war.

Gipfelfreude auf der Aiguille de la Tsa

Am nächsten Morgen wartete schon das nächste Fragezeichen auf uns: Die Überquerung der Riesengletscher Glacier du Mont Mine und Glacier de Ferpecle. Der erste Teil sollte kein Problem darstellen, da hier auch die Sommer-Haute-Route (ja das machen Leute wirklich!) entlanggeht. Über den zweiten Teil wusste ich wenig. Um die Etappe etwas zu „würzen“ entschieden wir uns, quasi im Vorbeigehen die Dents de Bertol zu überschreiten. Am Vorabend hatte uns ein einheimischer Bergführer von dieser Tour erzählt und sie empfohlen. Was wir vorfanden war allerdings kaum empfehlenswert, sondern nur loser Schutt und Bruch, weshalb wir wieder umkehrten und den jetzt umso entspannteren Gletscherweg einschlugen. Über endlos scheinende Schneewelten stiegen wir auf die Tete Blanche. Auch wenn dieser Schneedom technisch leicht ist, ist er trotzdem ein super Aussichtsgipfel inmitten der Walliser 4000er. Bis jetzt war der Weg sehr entspannt gewesen, jetzt stieg die Aufregung in mir. Während die Haute-Route-Geher*innen von hier nach Zermatt abstiegen, wollten wir zur Cabane de la Dent Blanche. Ich wusste, dass gleich hinter der Tete Blanche ein gemeiner Gletscherbruch auf uns wartete. Da die Sonne den Schnee hier bereits aufgeweicht hatte, war also höchste Vorsicht geboten. Doch der befürchtete Gletscherbruch entpuppte sich als Spaltenzone, auf der noch recht viel Schnee lang und durch die wir einen guten Durchschlupf fanden. Jetzt war der Weg frei und so marschierten wir genüsslich zur Cabane de la Dent Blanche (3507m).

Dort empfing uns der nette Hüttenwart Marcel. Auch wenn hier wahrscheinlich nie wirklich viel los ist war heuer doch besonders wenig Betrieb. Aufgrund der strengen Schweizer COVID-19 Regeln durften maximal 18 Personen auf der Hütte übernachten – für uns ein Traum, für Marcel eine schwierige Zeit. Nach dem Abendessen gab uns Marcel noch Tipps zur Tour, danach war bald Zeit fürs Bett.

Am Gipfel der Tete Blanche

Mit etwa 15 weiteren Gipfel-Aspiranten starteten wir am nächsten Morgen Richtung Gipfel. Viel Zeit zum Aufwärmen gibt’s am Dent Blanche nicht, denn die Kletterei startet gleich hinter der Hütte. Spätestens nach dem ersten Aufschwung ist man wach. Noch im Dunkeln geht es über ein Schnee- und Eisfeld, danach über steiles Blockgelände hinauf. Im ersten Morgenlicht querten wir einen steilen Gletscherhang, bei dem sauberes Steigen mit den Steigeisen angesagt war. Dann ging die Kletterei richtig los. Am Fuße des großen Gendarmen angekommen entschieden wir uns für die leichtere, linke Umgehungsvariante. Denn leider schien uns das Wetter heute nicht ganz wohlgesonnen zu sein. Der Gipfel steckte in einer dicken Wolkenhaube und je höher wir kletterten desto tiefer drangen wir in diese Haube ein. Es wurde kälter und windiger. Und die Kletterei wurde nun schwieriger, das Ambiente richtig alpin und ausgesetzt. Einige Längen ging es steil im 3. Grad aufwärts – bei dem Wind und mit Handschuhen eine echte Herausforderung, die Jörg tapfer meisterte. Zum Glück war zumindest der Fels trocken und wir konnten ohne Steigeisen klettern. Auch wenn der Fels gutgriffig und schön war kam bei diesen Bedingungen kein bisschen Plaisir-Feeling auf. Für den letzten Abschnitt zogen wir noch einmal die Steigeisen an und freuten uns, dass die Schwierigkeiten nun nachließen. Ganz im Gegensatz zum Wind! Der tobte sich richtig aus! Immer wieder zeigte sich der blaue Himmel über uns und wir konnten die benachbarten Gipfel erahnen, aber die Wolken wollten sich einfach nicht auflösen. Ein gemeines Spiel! Als wir schließlich den Gipfel erreichten tat dies der Freude keinen Abbruch. Juchee, wir standen auf dem Gipfel der Dent Blanche, 4357m über dem Meer. Wir zogen uns warme Jacken an und freuten uns mit den anderen Seilschaften, die sich mit uns gemeinsam auf den Gipfel gekämpft haben. Der Gipfel der Dent Blanche ist ein besonderer. Davon zeugt auch eines der seltenen Schweizer Gipfelkreuze, das sehr schön mit Seilen und Pickel geschmückt ist.

Allzu lange hielten wir uns dort trotzdem nicht auf, wir mussten schließlich wieder hinunter. Und dies taten wir über den gleichen Weg, den wir heraufgekommen waren. Der Wind hatte hier über Nacht die Felsen mit unwirklich erscheinenden Formationen aus Anraum überzogen. Wir waren froh über unsere Steigeisen! Zum Glück ließ auch der Wind nach, je weiter wir abstiegen und als wir über die Schlüsselstellen abstiegen und abseilten kam sogar die Sonne heraus. Der Gipfel zierte sich, er hielt sich noch den ganzen Tag bedeckt. Am Ende der größten Schwierigkeiten machten wir noch eine ordentliche Pause und genossen die wunderbare Aussicht auf das Matterhorn, das Monte Rosa Massiv und die restlichen Walliser Berg-Berühmtheiten. Auch zur Aiguille de la Tsa schweifte der Blick, dessen schlanke Gipfelnadel in diesem pompösen Konzert fast unterging.

An der Hütte angekommen ließ alle Anspannung nach und wir gönnten uns ein wunderbares, frisches Bier auf der Sonnenterasse. Wir begrüßten die ankommenden Gipfelaspiranten für den nächsten Tag und erfreuten uns an unserem heutigen Gipfelerfolg.

Am Dent Blanche Südgrat

Was macht die Dent Blanche so besonders? Sicherlich die Einsamkeit dieses Berges. Weit weg vom Massentourismus, hoch über dem ruhigen, sympathischen Val d’Herens gelegen. Mit Sicherheit auch die coole Kletterei in wirklich schönem Fels. Vielleicht auch die Tatsache, dass der Gipfeltag zwar lang, aber mit seinen 850 Höhenmetern doch überschaubar ist. Und wahrscheinlich auch die Tatsache, dass sie eine versteckte Perle, ein „Underdog“ unter den Walliser 4000ern ist, aber ein wunderbares Tourenerlebnis.

 

So stiegen wir am nächsten Tag in der kühlen Morgenluft dem Tal entgegen. Wir machten die volle Reise aus dem Eis in die Zivilisation. Quasi aus der Arktis nach Mitteleurope. über Gletscher, Geröllhänge und Schutt, hin zu den ersten lückigen Flecken Pioniervegetation, die sich schließlich zu saftigen alpinen Matten verdichten. Weiter hinunter werden die Gräser und Kräuter immer mehr, immer höherwüchsiger und üppiger. Schließlich tauchen die ersten Erlen-Sträucher auf, bald darauf erste Zirben und Lärchen, bis wir im Tal durch offene Fichten-Lärchen-Zirben-Wälder und über Kuhweiden nach Ferpecle spazieren.

Eisige Gipfelfreude auf der Dent Blanche

So fand eine außergewöhnliche Tourenwoche ihr Ende. Wir hatten enormes Glück mit dem Wetter und den Verhältnissen und meine Tourenkreation war voll aufgegangen. Und das wichtigste: Wir waren gesund und glücklich wieder im Tal angekommen.

Der kritische Leser mag sich jetzt denken: Eh klar, dass der seine Tour in einem guten Licht darstellen will. Wer weiß wie’s wirklich war? Darum habe ich Jörg um ein paar Zeilen Feedback gebeten, die ich kommentarlos und unverändert teilen möchte:

„Die Beschreibung „Walliser Berggenuss abseits der Massen“ weckt natürlich Erwartungen. Erwartungen, die dann auf unserer Runde absolut erfüllt wurden. Die Tour führte durch sehr abwechslungsreiche und beeindruckende Landschaften und bot dabei immer wieder fantastische Ausblicke. Konditionell und technisch durchaus fordernd, dabei aber jederzeit stressfrei, war die Zeit am Berg äußerst abwechslungsreich und spannend. Zirbenwald und liebliche Almwiesen zu Beginn und am Schluss, dazwischen schöner fester Fels und weite beeindruckende Gletscherflächen gepaart mit zwei formschönen Berggestalten abseits des Trubels, dazu urgemütliche Hütten in toller Lage.

Was will man mehr, wenn man die Seele des Bergsteigens erleben will.

Fazit: Echter Berggenuss und in in jeder Hinsicht eine runde Sache.“

Wer jetzt neugierig geworden ist – hier gehts zum Tourenangebot

Danke Jörg für dein Vertrauen und deine Motivation und herzliche Gratulation, dass du diese Tour so bravourös gemeistert hast!